Bergstadtverlag 2016, 153 Seiten, 12,5 cm x 20,5 cm
Die Stadt Vineta ist der Sage nach eine untergegangene Stadt an der Südküste der Ostsee.
Johann J. Claßen ist als Herausgeber des Hausbuchs „Und die Welt hebt an zu singen“ bekannt, das zum 150. Todestag des Joseph Freiherr von Eichendorff erschienen war.
Aus dem Vorwort von Grzegorz Supady: Claßen stellt seinem neuen Lyrikband den Untertitel Romantik-Nachhall voran, weil er damit auf eine Kontinuität in der romantischen Ausdrucksweise der europäischen Dichtung hinweisen will. Auf der Suche nach einer fiktiven blauen Blume durchstreift er das heimische wie fremde Gefilde: am Gestade der Ostsee, am Ufer des Atlantiks. Bisweilen klettert er in die Schluchten des Gebirges, weil er hofft, die rare Blume gerade in einem schattigen Felsspalt sprießend aufzufinden.
Seine durch erfinderische Prägung gekennzeichneten Dichtungen nannte Claßen Wie Windvisionen gehen die Glocken Vinetas. Es dürften dieselben Glocken bzw. Stimmen sein, die im ehemaligen Atlantis des Nordens, einer längst untergegangenen Welt des Pruzzenlandes (im alten Ostpreußen), zu vernehmen waren. Stimmen, die einst meisterhaft Johannes Bobrowski in Schattenland Ströme heraufbeschworen hatte. Genau wie Bobrowski verschrieb sich auch Claßen überwiegend dem eher als frigid empfundenen Norden Europas; so kann man sein Gemüt und sein ganzes lyrisches Schaffen erleben, die nötige Kraft, um am Meeresgrund Vinetas ruhenden Glocken in Bewegung zu setzen, daß sie tsunamiartig die Seewogen auftürmen. Dennoch: „Niemand vernimmt sie./ Das Brausen der Brandung/ Vergräbt ihr Verwehen// Kein Wort aus den Wogen -/ Vergaß das Vergängnis/ Die Stimmen am Grund?“
Trotz dieser Ohnmacht, die Claßen verstört, mit den Stimmen Vinetas kommunizieren zu können, bleibt doch ein Trost in der Lehre eines altbewährten Lehrmeisters: Goethe nämlich hinterließ jene überzeitlichen Verse, über die man nur schwer hinwegdichten kann: „Alles Vergängliche/ ist nur ein Gleichnis;/ das Unzulängliche/ hier wird's Ereignis …“ (Chorus Mysticus)
Claßen scheint dieses goethesche Prinzip verinnerlicht zu haben. Daher stellte er sich einer dichterischen Herausforderung und schuf einen aus zarten Formulierungen zusammengestellten Bilderband voller stimmungsvoller Impressionen, die nahezu alle Sinnesreize eines Lesers bewegen können.
Maimorgen
Der Maimorgen, taubenetzt,
webte im Flußtal
Grasteppichbilder.
Sumpfdotterblumen an Ufern
und Wiesen blütenreich,
aus denen die Lerche steigt.
Nun flicht er Binsenkörbe,
setzt auf dem Fluß
Blumen und Vögel aus.